Dieser mittlerweile über sieben Jahre alte kurze Aufsatz zum Thema Wahrheit von mir ist mir letzthin wieder in den Sinn gekommen. An Aktualität hat er meines Erachtens besonders in Bezug auf die Politik - und Akteure des Konstruktivismus jeglicher Couleur - nicht eingebüßt.
"Pilatus spricht zu ihm: Was ist Wahrheit? [...]" – Joh 18,38
Mit dieser Frage trifft der Präfekt des Römischen Reiches in der Provinz Judäa ein grundlegendes Problem der Menschheit, welches sich durch ihre gesamte Geschichte gezogen hat und zieht.
Pontius Pilatus, der in seiner Zeit in Judäa wohl einen Großteil seiner Kraft in das Zusammenhalten dieses von Aufständischen wie den Zeloten und anderen politischen Krisen immer wieder zerrütteten Teils des Imperium Romanum investieren und von daher oftmals auch aus moralischer Sicht fragwürdige Entscheidungen treffen musste, von denen einige mit hoher Wahrscheinlichkeit den falschen Weg eingeschlagen haben, wird an dieser Stelle des Johannesevangeliums mit einer Person konfrontiert, die ihr gesamtes Leben lang Wahrheit vertreten und gelebt hat. Dieser kurze Aufsatz soll einen Versuch darstellen, die Beziehung von "relativistisch"-weltlicher Wahrheit(sverdrängung) mit absoluter Wahrheit damals und heute zu veranschaulichen.
Als gebildeter römischer Staatsbürger wird Pilatus wohl sehr oft mit verschiedenen Weltanschauungen und Glaubensrichtungen in Kontakt gekommen sein; man kann also davon ausgehen, dass er sich durchaus auch mit dem Begriff der Wahrheit beschäftigt hat. Als Politiker bzw. Präfekt einer instabilen Provinz jedoch ist er mit Sicherheit auch den Unstimmigkeiten und Widersprüchen der einzelnen "Wahrheiten" in verschiedenen Formen, wie z.B. kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Vertretern dieser Vorstellungen, begegnet. Außerdem war er, wie in der Einleitung erwähnt, oft gezwungen, Entscheidungen zu treffen, die unter Anderem auch sehr viele Tote zur Folge hatten, nur um das Machtgefüge in Judäa, den Einfluß des Kaisers und letztlich auch die Integrität des Römischen Reiches im Gesamten zu bewahren und aufrecht zu erhalten.
Da ist es naheliegend, dass er sich nicht mehr eingehend mit der Suche nach der absoluten Wahrheit beschäftigen wollte – oder an ihrer Existenz gezweifelt hat – und viel eher einem Utilitarismus, Relativismus, oder gar Nihilismus anhing. Dem gegenüber steht Jesus als Vertreter der absoluten Wahrheit; jemand, der sein gesamtes Leben hin auf das glaubwürdige Ausüben eben dieser ausgerichtet sowie seine Entscheidungen nur auf Basis dieser absoluten Wahrheit getroffen hat und sämtliche, besonders auch für ihn selbst negative, Konsequenzen seiner Handlungen in vollem Bewusstsein trägt, was letztlich zu seiner Hinrichtung am Kreuz geführt hat.
Im Prätorium kommt es also zu einem Aufeinandertreffen zweier Personen, die unterschiedlicher nicht sein können – und dennoch scheint es so, als ob Pontius Pilatus sich der Falschheit seiner Einstellung und seines Handelns bewusst ist: Nachdem Jesus in das Prätorium geführt wurde und Pilatus sich die Vorwürfe gegen Jesus angehört hatte, sowie wahrscheinlich schon festgestellt hat, dass es sich um ein weiteres die Stabilität der Provinz bedrohendes Problem handelt, und in das Gebäude zurückkehrte, sprach er ihn zunächst auf die Vorwürfe an und ließ sich auf ein Gespräch mit Jesus ein (Joh 18,33ff). Wiederholt fragt er Jesus, was er getan habe, um als Verbrecher angeklagt zu werden. Er lässt sich erklären, dass der Vorwurf, Jesus behaupte von sich, er sei der König der Juden, im Grunde zwar stimmt – aber nicht im weltlichen, sondern eher im metaphysischen Sinne: "Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt; wenn mein Reich von dieser Welt wäre, so hätten meine Diener gekämpft, damit ich den Juden nicht überliefert würde, jetzt aber ist mein Reich nicht von hier." (Joh 18,36). Gleichzeitig unterstreicht Jesus mit dieser Aussage, dass sich die absolute Wahrheit nicht mit der politischen "Wahrheit", die auch Pilatus vertritt, zu messen braucht und vollkommen ohne die weltlichen Mittel der Gewalt auskommt und ihr damit überlegen ist.
Der Präfekt fragt Jesus an dieser Stelle erneut, ob er von sich behaupte, der König der Juden zu sein. Jesus bejaht dies: "[...] Du sagst es, dass ich ein König bin. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis gebe. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme." (Joh 18,37). Darauf entgegnet Pilatus nur: "Was ist Wahrheit?".
Entweder antwortet er mit dieser Frage rein rhetorisch und seine herablassende Haltung gegenüber auf absoluter Wahrheit basierenden Weltanschauungen unterstreichend, oder viel eher wahrheitsgemäß in einer Situation, in der ihm wieder bewusst wird, dass er eventuell von all den Verwirrungen seines Alltags als Machthaber her auf dem Irrweg liegen könnte und vor ihm jemand steht, der etwas tatsächlich Wahres vertreten könnte.
Vermutlich ist ihm aber im selben Augenblick wieder die wütende Volksmasse vor den Toren des Prätoriums eingefallen und seine Pflicht, das Römische Reich zu vertreten und zusammenzuhalten, in den Sinn gekommen sodass er Jesus kurzerhand alleine stehen lässt und wieder vor die Juden tritt (Joh 18,38). Trotz allem scheint er von der Unschuld Jesu überzeugt zu sein, da er der Volksmasse erklärt, er fände keine Schuld an Jesus. Jedoch sickert auch hier wieder der Einfluß seiner politischen Herkunft durch – denn um das Volk zu beruhigen, brauch es Taten.
Also macht er den Anklägern den Vorschlag, so wie es am Passahfest Brauch war, einen Gefangenen freizulassen. Diese entscheiden sich als aufgebrachte Menge für einen Räuber. Daraufhin lässt Pilatus Jesus geißeln und zum Spottobjekt wandeln, indem er ihn mit einer Dornenkrone und purpurnem Gewand wie einen "König" kleiden lässt und dem Volk vorführt. Nachdem die Hohen Priester seine Kreuzigung forderten, bekräftigt Pontius Pilatus noch einmal, dass er keine Schuld an Jesus fände und deswegen das Volk mit ihm verfahren solle (Joh 19,6).
Daraufhin begründen die Juden ihre Forderung mit einem ihrer eigenen Gesetze, nämlich dass Jesus sterben müsse, da er sich mit der Behauptung, Gottes Sohn zu sein, ihm gleichgestellt habe. Der Statthalter erkennt nun mit Sicherheit, dass es für Jesus aufgrund der Tatsache, dass das Volk den Hohen Priestern sehr hörig war, wahrscheinlich keinen Ausweg aus dieser Sache geben würde und bekommt nun Angst vor einem weiteren drohenden Aufstand. Er spricht nun wieder Jesus an und fragt ihn, von wo er herkomme. Dieser beantwortet ihm nicht diese Frage. Darauf erklärt Pilatus Jesus seine weltliche Macht, ihn entweder kreuzigen oder freigeben zu können, woraufhin Jesus erwidert: "[...] Du hättest keinerlei Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre; [...]" (Joh 19,11). Jenes bekräftigt den Präfekten wieder darin, Jesus freigeben zu wollen; er fällt aber schnell wieder davon ab, als die Volksmasse ihm zurief, dass er des Kaisers Freund nicht sei, wenn er denjenigen, der sich selbst zum König erklärt, ungestraft lässt. Das besiegelt das Todesurteil Jesu.
Dieses Verhalten des römischen Präfekten der Provinz Judäa ist besonders heute wieder von großer Bedeutung. Es scheint, dass ein nicht zu unterschätzender Teil der Menschen eine ähnliche Beziehung zum Thema Wahrheit pflegt. Viele sind in ihrem Alltag derart abgelenkt von Stress in Arbeit und Freizeit sowie durch das Informationsbombardement der heutigen Medienlandschaft – man weiß durch die zahlreichen Zeitungen, Fernsehprogramme, Filme oder Internetseiten von der Existenz tausender Religionen, Sekten, Weltanschauungen oder Esoterikangebote, allerdings nur rein punktuell und meist nicht durchdringend. Diese verschwimmen daher des Öfteren zu einer einzigen ununterscheidbaren Masse, von der man lieber Abstand hält – man hat ja gehört, dass Vertreter von "Wahrheiten" oft für Kriege oder andere Verbrechen verantwortlich waren.
Auch heute muss der Mensch sein Image wahren, um Teil der Gesellschaft sein zu dürfen: Wie Pilatus, der zu große Angst davor hatte, als Feind des Kaisers zu gelten falls er Jesus in die Freiheit übergeben hätte und ihn daher lieber hinrichten ließ, muss der moderne Mensch sich von der Wahrheit bzw. einer die Wahrheit anstrebenden Weltanschauung distanzieren insofern er keine Diffamierung durch manche politischen Gruppierungen erleiden möchte.
Das führt bis zur Behauptung, es gäbe ja keine "Wahrheit" oder wahr sei, was gerade den meisten Meinungen entspricht – wie es Grundlage der Denkweise vieler Konstruktivisten ist. Abgesehen von der Medienlandschaft tut die negative Stressbewältigung in Form andauernder Ablenkung von existentiellen Fragen ihr Übriges. Der Mensch versucht immer vehementer der Konfrontation mit der Frage bzw. Suche nach der Wahrheit und ihren Konsequenzen wie der Gefahr des Alleinseins oder der Kenntlichmachung der eigenen Fehler auszuweichen, was ihn in gewisser Weise entmündigt – denn wer schreibt eigentlich vor, dass ein Mensch Freiheitsrechte genießen darf und das eine allgemein gültige Wahrheit sei, wenn die Wahrheit eine Erfindung machtbesessener Demagogen ist?
Insgesamt verhalten sich die Menschen heute nicht anders als Pontius Pilatus vor fast 2000 Jahren. Sie wissen zwar, dass es Wahrheit gibt, wollen aber nichts mit ihr zu tun haben. Dies stellt heute allerdings eine mögliche Gefahr für sämtliche moralischen Errungenschaften der heutigen christlich-jüdisch geprägten Gesellschaften dar.